Die Kunst des feinen Timings im Horsemanship und im Leben
Manchmal hören wir einen Satz, und er trifft uns wie ein gut geworfener Sandklumpen mitten ins Gesicht. Einer dieser Sätze stammt von Ray Hunt, dem legendären Horseman:
„Du musst früher weniger tun. Du machst immer zu viel, zu spät.“
Warum wir oft zu viel tun – und zu spät
Wenn wir mit Pferden arbeiten, neigen wir oft dazu, mit zu viel Energie oder Druck zu agieren. Vielleicht geben wir ein Signal, das nicht sofort die gewünschte Reaktion hervorruft – und anstatt einen Moment abzuwarten, legen wir nach. Wir werden lauter, deutlicher, insistierender. Doch genau das führt oft zum Gegenteil dessen, was wir uns wünschen: Das Pferd wird verwirrt, blockiert oder sogar widerständig.
Gutes Horsemanship bedeutet nicht, mehr zu tun, sondern rechtzeitig das Richtige zu tun. Ein feines, früh gesetztes Signal ist oft effektiver als ein spätes, intensives. Pferde sind Meister darin, kleinste Veränderungen in unserer Körpersprache wahrzunehmen. Sie spüren es, wenn wir unbewusst eine Schulter fallen lassen, die Atmung verändern oder mit der Körpermitte eine leichte Drehung einleiten.
Wenn wir es schaffen, diese Feinheiten bewusst zu nutzen, braucht es kaum noch sichtbare Hilfen. Das Geheimnis liegt darin, den richtigen Moment zu erwischen – bevor eine Korrektur nötig wird.
Aber bevor wir zu den tiefgründigen Erkenntnissen kommen, möchte ich euch von einem Beispiel erzählen:
Das (fast) unsichtbare Vorrücken – und die übertriebene Reaktion
Stellen wir uns folgende Szene vor:
Eine Klientin steht mit mir am Reitplatz, das Pferd entspannt einige Meter neben ihr. Wir unterhalten uns (also die Klientin mit mir, das Pferd eher mit der eigenen inneren Zen-Meisterin).
Langsam, beinahe unsichtbar, setzt das Pferd einen Huf nach vorne. Dann den nächsten. Zentimeter für Zentimeter rückt es in den Raum der Klientin, schiebt sich ganz beiläufig näher, als wäre es das Normalste auf der Welt. Und was macht die Klientin? Nichts. Sie bemerkt es nicht oder ignoriert es.
Bis – zack! – der Moment kommt, in dem es ihr plötzlich auffällt, wahrscheinlich weil der letzte Schritt des Pferdes nur noch knapp ihren Fuß verfehlte.
Und dann kommt die Überreaktion: Sie wirft die Arme in die Luft, macht große Schritte nach vorne, wedelt energisch und ruft vielleicht noch irgendwas zwischen „HEY!“ und „Geh da raus!!“.
Und das Pferd?
Steht wie festgewurzelt. Schaut sie an. Blinzelt. Vielleicht nimmt es den Kopf hoch und geht sogar ein paar Millimeter zurück, aber nicht aus Kooperation – sondern aus blanker Verwirrung. Es hat ja nur in Zeitlupe seinen Raum erweitert, und plötzlich benimmt sich der Mensch wie ein Kranich auf Koffein. Dabei hat die Klientin dem Pferd vorhin doch „gesagt“, dass es völlig in Ordnung ist, ihren Raum abzugeben.
Warum passiert das immer wieder?
Ganz einfach: Weil wir oft erst handeln, wenn es für uns offensichtlich wird. Wir übersehen die feinen, ersten Anzeichen und greifen erst ein, wenn es nicht mehr anders geht. Und dann – natürlich – übertreiben wir gerne maßlos.
Dabei wäre es so einfach: Wenn die Klientin das erste Vorrücken bemerken würde und direkt mit einer kleinen Geste signalisiert: „Ich möchte das jetzt nicht.“ – dann wäre die Sache erledigt. Kein Drama, kein hektisches Wedeln, kein immenser Energieverlust.
Die Lektion fürs Leben: Kleine Signale rechtzeitig setzen
Genauso funktioniert es auch außerhalb der Pferdewelt.
- Wenn du früh merkst, dass dein Energielevel sinkt und eine Pause machst, brauchst du später keinen kompletten Tag auf der Couch.
- Wenn du direkt eine Kleinigkeit ansprichst, die dich in einer Freundschaft stört, ersparst du dir einen ausgewachsenen Streit.
- Wenn du frühzeitig darauf schaust, was deine Mitarbeiter von dir als Führungskraft brauchen, ersparst du dir spätere Mediation oder Kündigungswellen.
- Wenn du nach zwei Keksen stoppst, musst du nicht am Ende die leere Packung mit einem schlechten Gewissen vergraben. (Gut, das Beispiel ist gemein, manchmal passiert das trotzdem – nobody is perfect.)
Pferde lehren uns, dass feine, gut getimte Signale kraftvoller sind als späte, hektische Korrekturen. Dass es nicht darum geht, mehr zu tun, sondern früher das Richtige.
Also: Was kannst du heute früher tun – und dabei weniger tun?
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